17 März 2012

Jean Pauls ironisches Plädoyer für die Zensur

Schutz- und Stichblatt für das zweite Briefsiegel in Staatssachen.

[...] Da der gemeine Soldat seine Briefe vorher seinem Offizier vorweisen muß – der Bastillen-Garnisonist seine dem Gouverneur der Mönch seine dem Prior – der amerikanische Kolonist seine dem Holländer132 (damit er sie verbrenne, wenn sie über ihn klagen) –: so kann wohl kein Staatsmann, er mag nun den Staat für eine Kaserne – oder für eine Engelsburg – oder für ein monasterium duplex – oder für eine europäische Besitzung in Europa ansehen, ihm das Recht absprechen, sich alle Briefe so offen zu erhalten, wie Fracht-, Adelskauf- und Apostelbriefe es sind. Der einzige Fehler ist bloß, daß er die Briefe nicht eher vorbekommt als zugepicht und zugesperrt; das ist unmoralisch genug; denn es nötigt die Regierung, auf- und zuzumachen – den Brief aus der Scheide zu ziehen und in sie zu stecken, wie der Koch mühsam die Schnecke aus ihrer Schale drehet und dann, sobald sie vom Feuer weg ist, in diese wieder zurückgeschoben aufsetzt.

Letzteres ist der Punkt und Hauptwind, der uns weiterzuführen hat. Denn so allgemein es auch anerkannt, so wie Observanz sei, daß die Regierung aus demselben Grunde, woraus sie den letzten Willen öffnet, auch jeden vorvorletzten und endlich den ersten müsse früher entsiegeln können als der Erbe desselben – und daß ein Fürst noch viel leichter Diener-Briefe in dieselbe Entzifferungskanzlei (und in ihr Vorzimmer, die Entsieglungskammer) müsse ziehen können, worin Fürsten- und Legatenbriefe aufgehen vor der Springwurzel –: so ist doch das Korkziehen der Briefe – das Koppelsiegel – das Vikariatsiegel – das mühsame Nachmachen des L. S. oder Loco Sigilli etwas sehr Verdrüßliches und beinahe Abscheuliches; aus dem Unrecht muß daher ein Recht gemacht werden durch gesetzliche Wiederholung.
Etwas davon würde, hoff' ich, sein, wenn befohlen würde, die Briefe nur auf Stempelpapier zu schreiben; ein dazu eingesetztes Schau- und Stempelämtchen läse dann vorher alles durch.
Oder man könnte die Pitschafte, als Münzstempel für Privatmünzen, nicht mehr zulassen. Es schlüge sich dann eine Siegel-Kammer mit großen Rechten ins Mittel und verpetschierte, wie jetzt den Nachlaß der Verstorbnen, alsdann der Lebendigen ihren.
Oder – was vielleicht vorzuziehen – eine Brief-Zensur müßte anfangen. Ungedruckte Zeitungen, nouvelles à la main, nämlich Briefe, können, weil sie noch größere Geheimnisse austragen, nie eine größere Zensurfreiheit fodern, als gedruckte Zeitungen genießen; besonders da jeder Brief jetzt so leicht ein umherrennender Zirkelbrief wird. Ein Katalog verbotener Briefe (index expurgandarum) wäre dann für den Korrespondenten immer ein Wort.
Oder man vereide die Postmeister, daß sie treue Referendarien alles dessen werden, was sie Wichtiges oder Bedenkliches in den Briefen angetroffen, die sie vor deren Abgang auf die geistige Briefwaage gelegt und mit der Hoffnung wieder zugemacht, sie nach dem Leibnizischen Prinzip des nichtzuunterscheidenden Siegels weiterzuschicken.
Findet der Staat alle diese Wege, Briefe zu lesen und zu schließen, neu und hart: so mag er auf seinem fortfahren, sie aufzumachen.
(Jean Paul: Titan, DritterBand, 74. Zykel, S.402-404)

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