01 Mai 2011

Verkehrstechnische Entwicklung in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Mehr als fünfundvierzig Jahre sind an den räucherigen Dächern meiner kleinen Vaterstadt hingerollt, seit ich die ersten deutlichen Eindrücke von der Erhabenheit seines Kirchthurmes, der Großartigkeit seines Rathhauses und der Majestät seines Amtsgebäudes gewöhnlich ‘das Schloß’ genannt, empfing. Drei neue Straßen haben seit jener Zeit die Gestalt der Stadt so verändert, daß ich mich mit Mühe darin zurecht finde, und ausnahmsweise kühne Männer haben den Schutz des zur Sommerzeit etwas übelriechenden Wallgrabens verschmäht und sich vor den Thoren angesiedelt, jeder Gefahr keck die Stirn bietend, die innerhalb der Ringmauern der Stadt der Polizeidiener und die Nachtwächter zu verscheuchen verpflichtet sind. Die Priesterkoppel, wo ich durch meinen Papierdrachen Correspondenz mit den Wolken pflog, ist jetzt mit einem Häusermeer bedeckt; [...] und wo wir Knaben früher im idyllischen Spiel mit den Kälbern, Lämmern und Füllen des alten Nahmacher umhersprangen, wird von den gebildeten Töchtern der haute volée jetzt Polka-Masurka eingeübt. Die Straßen sind auf’s Beste gepflastert, und von den Thoren der Stadt aus gehen directe Chausseen nach Hamburg, Paris, Berlin und St. Petersburg. [...] Posten [Postkutschen] und Extra-Posten gehen unablässig, richtige Zeit haltend, hin und her durch die Straßen; Equipagen mit und ohne Kammerjungfern [...] halten vor einer Unzahl von Gasthöfen. Die vorzugsweise ‘Reisende’ genannte Nation, mit dem herrschenden Stamm der Weinreisenden an der Spitze, ist völkerwandernd und völkerbeglückend über die Stadt ausgegossen und sucht die Segnungen einer im steten steigen begriffenen Civilisation über die inwohnenden Schuster und Schneider zu verbreiten. Die sie selbst haben in aller Stille den jeden National-Ökonomen erschreckenden Beweis geliefert, daß trotz aller hemmenden Heimathsgesetze und Zuzugshinderungen eine Bevölkerung von 1200 Einwohnern in vierzig Jahren im Stande ist, sich durch Kraft und Ausdauer auf 2500 zu bringen.


Wie ganz anders war es in meinen Kinderjahren. Ungefähr monatlich einmal zog kothbespritzt ein einsamer Probenreiter [Vertreter mit Musterkoffer] auf buglahmem Gaule in die Thore der Stadt ein, und erkundigte sich in ergötzlichem, ausländischem Dialekte bei einem Straßenjungen, etwa bei mir, nach dem einzigen Gasthofe des Städtchens. Unter uns Rangen entspann sich dann ein lebhafter. Streit, wer den Fremden zu Toll’s, später Schmidt, später Beutel, später Kämpfer, später Kossel, später Holz, jetzt Clasen, geleiten sollte, bis wir uns zuletzt denn darüber vereinigten, ihm sämmtlich das Comitat zu geben, dem sich dann noch einige ältere Personen anschlossen und darüber debattirten, ob dies derselbe sei, der vor einem Jahre, oder vor drei Jahren die Stadt beglückt habe. Kein Kellner empfing den Unglücklichen – dies Geschlecht war damals noch nicht geboren - er war gezwungen, sein Rößlein selbst in den Stall zu führen; seiner selbst wartete in den Räumen des Hotels von allen Erquickungen, welche der Scharfsinn der Menschen seit dieser Zeit erfunden hat – nur holländischer Käse.
Posten kamen damals auch, und zeichneten sich durch die Zufälligkeit ihrer Ankunft aus. Zur Herbst-, Frühjahrs- oder Winterzeit namentlich kam gewöhnlich der Postillon auf einem Vorderpferde voraufgesprengt und brachte die tröstliche Nachricht, die Post würde bald kommen, sie wäre schon beim Bremsenkrug; "aewer dor is Sei tau Senk drewen", war dann der erfreuliche Nachsatz, welcher dann eine gründliche Nach- und Ausgrabung zur Folge hatte. Endlich kam dann ein hellblau angestrichener, durch Ketten und Eisenstangen auf’s Mannigfalltigste versicherter, mit acht Pferden bespannter offener Kartoffelkasten in die Stadt hinein gerumpelt, auf dessen quer über die Leiterbäume gelegten Bänken eine Anzahl halb ‘verklamter’ Unglücklichen, wie Schafe zur Schlachtbank, zum Posthause gefahren wurden, wo dann eine Sonderung zwischen den Schafen und den Böcken ["blinde" Passagiere, die nichts bezahlt hatten] eintrat. Die Böcke blieben vor der Thür, die Schafe gingen in’s Posthaus, und wurden dort von dem Postschreiber, der in einer Art Vogelbauer saß, welches er sein Comtoir zu nennen beliebte, den Vexationen [Qualen] unterworfen, von denen die Böcke befreit blieben. Die Naivetät, die sich in dieser Staatseinrichtung aussprach, ging soweit, daß, als der Postschreiber seine postalischen Bemerkungen irrthümlich auf einen vor der Thür stehenden Bock ausdehnen wollte, ihm derselbe trocken zur Antwort gab: "Sei hewwen mi nicks tau seggen, ick bün en Buck."

Wo jetzt in starrer, trockner Regelmäßigkeit die Chausseen sich hinziehen und das Auge blenden und ermüden, wo lange Reihen langweilig congruenter Pappeln den Wanderer gleichsam zum ewigen Spießruthenlaufen verdammen, wand sich damals der Weg in lieblich mäandrischer Krümmung durch pittoreske Alleen gekröpfter Weiden dahin und bot dem Auge in Gestalt von Pfützen und knietiefen Geleisen die Mannigfaltigkeit von Berg und Thal und See. Den etwa Strauchelnden nahm die liebende Mutter Erde in ihrem weichen Schoße auf, und entließ ihn nur mit einem Andenken an sich.

Leider war mit diesen malerischen Ergötzlichkeiten eine gewisse Unbequemlichkeit des Reisens verbunden, die uns während der Wintermonate außer Verkehr mit der Welt versetzte, und nur entschiedenen Wagehälsen erlaubte, die heimathlichen Thore zu verlassen. Ich entsinne mich noch, daß ein Kaufmann unserer Stadt, der vielleicht überseeischen Handel betreiben mochte, sich bestimmt aber durch sehr gewagte Speculationen in Feuerschwamm, Lorbeerblättern und Korinthen vor feinen Gewerbsgenossen auszeichnete, tags vor seiner Abreise nach Hamburg im blauen Leibrock mit blanken Knöpfen und wildledernen Handschuhen – das Glacé war noch nicht erfunden – in der Stadt, Haus bei Haus, auf Leben und Sterben Abschiedsvisiten machte. Wie er nach der Kirche, in der er das heilige Abendmahl genommen, auch zu uns kam, allen die Hand reichte und in tiefer Rührung das Haus verließ. Ich sehe meine Tante Christiane noch, wie sie ihm mit vorgerecktem Halse nachsah, bis die sturmbewegten Schöße seines neuen Leibrocks hinter der Apothekerecke verschwanden; ich höre sie noch in die Worte ausbrechen: "Ne! Wat is ‘t’ för ein Minsch!" Der Mann kam nicht wieder. Dunkle Gerüchte von, zu Schadenkommen’ und ‘Halsbrechen’, und dann wieder von einer verfehlten Lorbeerblätterspeculation und demnächstiger Abreise nach Batavia, kamen uns freilich zu Ohren. Gewißheit ward uns aber nicht zu Theil, und selbst den aufklärenden Talenten der Polizei ist es nie gelungen, das obwaltende Dunkel zu enthüllen.

Die mannigfachen Verkehrshinderungen, die aus dem Schlamme lehmiger Vicinal-Wege [ländliche "Nachbarschafts"wege] emporwuchsen, wurden von einer unverwöhnten Bevölkerung mit stoischem Gleichmuthe als unvermeidliche Erdenübel hingenommen, und nur dann, wenn die trocknenden Frühlingswinde und die warme Junisonne die Hauptschlachten gegen die Einflüsse des Winters geschlagen hatten, rüstete sich die Besatzung eines Chaisewagens, die den vielversprechenden und wohlklingenden Namen einer Wege-Besichtigungs-Commission führte, als fliegendes Corps die Niederlage des nordischen Herrschers zu vervollständigen und seine Spur von der Erde zu vertilgen. So ein Sommerfeldzug hatte seine behaglichen Seiten. Das Terrain war bekannt, die Etappenörter nicht zu weit belegen, das Land mit allem reichlich versehen, und klüglich wußte man es so einzurichten, daß man zum Frühstück bei Pächter X. eintraf, dessen Frau als Verfasserin der besten Schinken bekannt war, zum Mtttag beim Pächter Y., der schon vorläufig den Tod eines fetten Kalbes annoncirt hatte, und zu Abend beim Gutsbesitzer Z., der noch neulich durch die Größe seiner Karauschen eine Wette gewonnen hatte.

Die Geschäfte der Commission waren angenehmer Natur; man sah von der Höhe des Chaisewagens auf die verharrschten Wunden der Wege hinab, man freute sich darüber, daß nun alles wieder so schön in Ordnung sei, und stieß man einmal zufällig auf eine auffallend tiefe Narbe, so überließ man sich dem wohlthuenden Gefühle, welches wir empfinden, wenn es draußen stürmt und regnet, und wir am warmen Ofen sitzen; man freuete sich, daß man nicht während des Winters in diesem schrecklichen Loche sitzen geblieben sei, und verordnete Schönpflästerchen für die widerwärtige Narbe, deren Applicirung in Gestalt von Wegebesserungen den einzelnen Gutsinhabern zur Pflicht gemacht wurde. Dadurch kam denn nun eine neue Noth über unsere kleine Welt. Zehn bis zwölf Tagelöhner wurden zu einer Zeit, in der sonst nichts Nützliches, etwa des vielen Regens wegen, gethan werden konnte, unter Anleitung eines Wirthschafters, der noch sehr in den Anfangsgründen des Nivellirungs-Systems steckte, längs des Weges in die Gräben gestellt und angewiesen, Koth, Schlamm und Rasen ja mitten in den unseligen Weg zu werfen; in die vorzugsweise halsbrechenden Stellen wurden abgesammelte Feldsteine und Bauschutt gestürzt, und ‘Knüppeldämme’ wurden angelegt, Besserungsanstalten für sonst unverbesserliche Idealisten, nutzanwendungsreiche Predigten über die Hinfälligkeit der menschlichen Natur und Kasteiungen des Fleisches, die in tiefgehender Wirkung alles übertrafen, was La Trappe jemals ersonnen hat. Ein gebesserter Weg war der Schrecken der Umgegend, und ich entsinne mich noch, wie ein wohlmeinender Pächter einmal zu meinem Vater sagte: "Führen S’ den annern Weg; jo nich desen! desen hewwen wi betert." (Reuter: Meine Vaterstadt Stavenhagen, S.114-119)

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