24 Oktober 2010

Der Talmud über die Schöpfung

Unsere Meister lehrten: Die vom Lehrhause Schammais sagten: Die Himmel wurden zuerst erschaffen, und daraufhin die Erde erschaffen, denn es heißt [1. Mose 1,1] Im Anfang erschuf Gott die Himmel und die Erde. Und die vom Lehrhause Hillels sagten: Die Erde wurde zuerst erschaffen und daraufhin die Himmel, denn es heißt [1. Mose 2,4]: Am Tage, da der Herr, Gott, Erde und Himmel machte.
Die vom Lehrhause Hillels sagten zu denen vom Lehrhause Schammais: Nach euren Worten baut ein Mensch den Oberstock, und daraufhin baut er das Haus, denn es heißt [Amos 9,6]: Der in den Himmeln sein Obergemach baut und sein Gewölbe über die Erde gründet. Die vom Lehrhause Schammais sagen zu denen vom Lehrhause Hillels: Nach euren Worten macht ein Mensch den Fußschemel, und daraufhin macht er den Stuhl, denn es heißt [Jesaja 66,1]: So spricht der Herr: Die Himmel sind mein Stuhl und die Erde meiner Füße Schemel.
Die Weisen aber sagen: Diese und jene wurden gemeinsam erschaffen, denn es heißt [Jesaja 48,13]: Hat doch meine Hand die Erde gegründet und meine Rechte die Himmel ausgespannt. Ich rufe ihnen zu - zusammen stehen sie da.
Der Talmud ist in seinem Wesen Auslegung der Heiligen Schrift, das heißt der hebräischen Bibel, der Tanach. Obwohl er die Schrift primär als Weisung für das tägliche Leben auslegt, denn der fromme Jude will sein ganzes Leben nach den Weisungen der Schrift leben, so finden sich doch auch Passagen zu fast allen Themen, die in der hebräischen Bibel, dem Alten Testament, behandelt werden.
Im Talmud ist die jahrhundertelange Diskussion zur Bibelauslegung festgehalten, die der schriftlichen Niederlegung dieser Diskussion vorausging. Deshalb enthält er nicht nur den bei Niederlegung des Textes neusten Wissensstand, sondern in verkürzter Form diese jahrhundertelange Diskussion. So versteht er sich als Ausgangspunkt für die Fortsetzung dieses Lehrgesprächs in der Gegenwart.
Wesentlich ist dabei immer der Dialogcharakter und dass Meinungen nicht unterschlagen werden, auch wenn sie gegenwärtig von der Mehrheit als falsch angesehen werden [Zunächst denken die Verfasser dabei an ihre Gegenwart zum Zeitpunkt der Verschriftlichung, im Grundsatz ist aber die jeweilige zukünftige Gegenwart mitgedacht.] Man kann dieses Gespräch über die Jahrtausende also durchaus mit dem herrschaftsfreien Diskurs vergleichen, den Habermas sich als die Voraussetzung für das Entstehen menschlicher Wahrheit denkt.
Weiteres Textbeispiel zum Talmud
Internetseite zum Talmud mit Erläuterungen und Textbeispielen
Günter Stemberger: Der Talmud. Einführung. Texte, Erläuterungen, Beck München, 4. Aufl. 2008
Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, Talmudische Zeit. 1853-1875; Zeno zum Talmud

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