24 August 2010

Was sollen mir diese Bekenntnisse?

Als ich sie das erste Mal gelesen habe, waren Rousseaus "Bekenntnisse" für mich ein merkwürdiger Bericht darüber, wie ein junger Mann von Frau zu Frau zieht, mehr oder minder intensive sexuelle Kontakte mit ihnen anknüpft und das alles in exaltierter Sprache. Wie nimmt der sich aber wichtig!

"Ich beginne ein Unternehmen, welches beispiellos dasteht und bei dem ich keinen Nachahmer finden werde. Ich will der Welt einen Menschen in seiner ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich selber sein."

Bei der zweiten Lektüre habe ich mich nicht verpflichtet gesehen, die Frauengeschichten des Jünglings Etappe für Etappe mitzuverfolgen. Ich habe den Anfang mit dem Romane lesenden Sechsjährigen betrachtet:

"Ich erinnere mich nicht, was ich bis zu einem Alter von fünf oder sechs Jahren that. Ich weiß nicht, wie ich lesen lernte; ich entsinne mich nur noch meiner ersten Lectüre und wie sie auf mich wirkte; von dieser Zeit an beginnt mein ununterbrochenes Selbstbewußtsein. Meine Mutter hatte Romane hinterlassen. Wir, mein Vater und ich, fingen an, sie nach dem Abendessen zu lesen. Zuerst handelte es sich nur darum, mich durch unterhaltende Bücher im Lesen zu üben; aber bald wurde das Interesse so lebhaft, daß wir abwechselnd unaufhörlich lasen und selbst die Nächte bei dieser Beschäftigung zubrachten. Wir konnten uns nicht überwinden, vor Beendigung eines Bandes aufzuhören. Mitunter sagte mein Vater, wenn er gegen Morgen die Schwalben schon zwitschern hörte, ganz beschämt: »Laß uns zu Bette gehen, ich bin noch mehr Kind als du.«

Auf diesem gefährlichen Wege eignete ich mir nicht allein in kurzer Zeit eine außerordentliche Gewandtheit im Lesen und Auffassen an, sondern auch ein für mein Alter ungewöhnliches Verständnis der Leidenschaften. Während es mir noch an jedem Begriffe von den wirklichen Verhältnissen fehlte, hatte ich bereits einen Einblick in die Welt der Gefühle gewonnen. Ich hatte nichts begriffen, aber alles gefühlt und die eingebildeten Leiden meiner Helden haben mir in meiner Jugend hundertmal mehr Thränen entlockt, als ich später über meine eigenen vergossen habe. Die unklaren Vorstellungen, die ich nach einander in mich aufnahm, konnten der Vernunft, die ich noch nicht hatte, zwar nicht schädlich sein, aber sie waren doch die Ursache, daß die meinige ganz eigenartig wurde, und brachten mir über das menschliche Leben höchst wunderliche und schwärmerische Begriffe bei, von denen mich Erfahrung und Nachdenken nie haben vollkommen heilen können."
Dann sprang ich zum Leben des erfolgreichen Autors und konnte mich nicht genug wundern, wie wenig er in seinen Erinnerungen auf den Inhalt seiner Schriften einging und auf die Revolution, die er damit in der Geisteswelt hervorrief.
Immer geht es um seine gesellschaftliche Stellung in der adeligen Gesellschaft, seine Anerkennung durch adlige Frauen, und das, obwohl er sich durchaus bewusst eine unabhängige Stellung in der Gesellschaft verschafft hatte, damit er von Karrieregesichtspunkten unabhängig publizieren könne.

Und dann die Verwunderung darüber, wie viel dieser Mann außerhalb der Felder, in denen er heute noch bekannt ist: Philosophie, Staatstheorie und Pädagogik, verstanden hat:
erfolgreicher Opernkomponist, einflussreichster Musikästhetiker seiner Zeit, Gesandtschaftssekretär, Romanautor.
Immer sich selbst bemitleidend, immer höchst originell, hochgeachtet von den größten Geistern seiner Zeit und immer im Streit.

Ob man sich die Lektüre des ganzen Werkes zumuten will?
Man kann ja mit einzelnen Stilproben beginnen.

Hier Zitate aus Rousseaus Gesamtwerk.

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