05 August 2010

Rousseaus Weise zu denken und zu arbeiten

Zwei sonst fast unvereinbare Dinge verbinden sich in mir in einer mir unbegreiflichen Weise: ein sehr feuriges Temperament, lebhafte heftige Leidenschaften und eine langsame Entwickelung der Gedanken, die sich unklar und nie im richtigen Augenblicke einstellen. Man sollte meinen, daß mein Herz und mein Geist nicht einem und demselben Wesen angehörten. Schneller als der Blitz erfüllt das Gefühl meine Seele, aber anstatt mir Klarheit zu verschaffen, entflammt und blendet es mich. Ich fühle alles und begreife nichts. Ich bin leidenschaftlich erregt, aber albern; zum Denken habe ich kaltes Blut nöthig. Erstaunlich ist dabei, daß ich dennoch ziemlich sichern Tact, Scharfsinn, sogar Schlauheit habe, gönnt man mir nur Zeit; wenn ich mich vorbereiten darf, mache ich ganz treffliche Gedichte, aber auf der Stelle habe ich nie eines fertig gebracht oder etwas gesagt, was einigen Werth hätte. Brieflich würde ich eine ganz witzige Unterhaltung führen, wie ja auch die Spanier in gleicher Weise Schach spielen sollen. Als ich von einem Herzoge von Savoyen die Anekdote las, er hätte sich auf einer Reise umgewendet, um zu rufen: »Mögest du dir den Hals brechen, Pariser Krämer!« sagte ich zu mir: »Gerade so wie ich selbst!«
Diese Langsamkeit des Denkens im Verein mit dieser Lebhaftigkeit des Gefühls macht sich bei mir nicht nur in der Unterhaltung geltend, sondern auch wenn ich allein bin und bei der Arbeit. Mit der unglaublichsten Schwierigkeit ordnen sich meine Gedanken im Kopfe. Sie laufen in ihm planlos umher und fangen an zu gähnen, bis ich in Aufregung gerathe, mich erhitze und Herzklopfen bekomme, und inmitten dieser Erregung sehe ich nichts deutlich, wäre ich unfähig ein einziges Wort zu schreiben; ich muß warten. Allmählich läßt diese große Erregung nach, das Chaos entwirrt sich, jedes Ding beginnt seine richtige Stelle einzunehmen, aber langsam und nach einer langen und verlegenen Unruhe. Habt ihr nicht hin und wieder in Italien die Oper besucht? Bei dem Scenenwechsel herrscht auf diesen großen Bühnen eine unangenehme und ziemlich lange anhaltende Verwirrung; alle Decorationen liegen bunt durcheinander, man gewahrt auf allen Seiten ein peinlich berührendes Hin- und Herziehen; man glaubt, alles müßte zusammenstürzen; allein nach und nach ordnet sich alles, nichts fehlt, und man ist ganz erstaunt, wenn man auf diesen langen Wirrwar ein hinreißendes Schauspiel folgen sieht. Ungefähr ein ähnlicher Vorgang findet in meinem Kopfe statt, sobald ich schreiben will. Wäre ich im Stande gewesen, erst zu warten und die Dinge dann in der Schönheit wiederzugeben, in der sie sich mir dargestellt haben, dann würden mich wenige Schriftsteller übertroffen haben.
Daraus entspringt die ungemeine Schwierigkeit für mich zu schreiben. Meine durchstrichenen, hingesudelten, mit vielen Einschaltungen versehenen, kaum lesbaren Schreibereien bezeugen die Mühe, die sie mir gekostet haben. Es ist nicht eine einzige unter ihnen, die ich nicht hätte vier- oder fünfmal abschreiben müssen, ehe ich sie zum Druck befördern konnte. Ich habe mit der Feder in der Hand, mein Papier auf dem Tische vor mir, nie etwas aufzusetzen vermocht. Auf Spaziergängen, zwischen Felsen und in Wäldern, Nachts, wenn ich schlaflos im Bette liege, da schreibe ich im Kopfe, man kann sich vorstellen mit welcher Langsamkeit, zumal bei einem Menschen, dem es an allem Wortgedächtnisse gebricht und der in seinem ganzen Leben nicht sechs Verse hat auswendig behalten können. Es giebt Perioden in meinen Schriften, die ich fünf oder sechs Nächte lang in meinem Kopfe hin und her gewendet habe, ehe sie so gefeilt waren, daß sie zu Papier gebracht werden konnten. Daher kommt es auch, daß mir Werke, die Arbeit verlangen, besser gelingen, als solche, die mit einer gewissen Leichtigkeit, ähnlich wie Briefe, abgefaßt werden wollen, eine Gattung, deren Ton ich nie habe treffen können und die mir deshalb Qual bereitet, so oft ich mich mit ihr beschäftigen muß. Auch über die geringfügigsten Angelegenheiten schreibe ich keine Briefe, die mir nicht stundenlange Anstrengungen kosten, und wenn ich sofort niederschreiben will, was mir vorkommt, so weiß ich weder Anfang noch Ende; mein Brief wird dann ein langer und verworrener Wortschwall; man versteht mich kaum, wenn man ihn liest.
Es wird mir nicht allein sauer, die Gedanken wiederzugeben, es wird mir sogar sauer, sie zu fassen. Ich habe die Menschen studirt und halte mich für einen ziemlich guten Beobachter; allein ich bin unfähig, von dem, was ich sehe, etwas einzusehen; ich sehe nur das ein, dessen ich mich erinnere, und nur in meinen Erinnerungen bin ich klug. Von allem, was man in meiner Gegenwart sagt, in meiner Gegenwart thut, in meiner Gegenwart sich ereignet, merke ich nichts, durchschaue ich nichts. Nur das rein Aeußerliche tritt vor mein Auge. Aber später fällt mir alles wieder ein; ich entsinne mich des Ortes, der Zeit, des Tones, der Blicke, der Geberde, kurz jedes Umstandes; nichts entgeht mir. Und aus dem, was man gethan oder gesagt, finde ich dann heraus, was man dabei gedacht hat, und ich täusche mich darin selten.
Wenn ich nun allein mit mir selbst so wenig Herr meiner Geisteskräfte bin, so möge man sich vorstellen, was ich in der Unterhaltung sein muß, wo man, um schlagfertig zu reden, gleichzeitig und auf der Stelle an tausend Dinge denken muß. (3.Buch)

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