08 August 2010

Gesellschaftsvertrag

Von den verschiedenen Werken, an denen ich arbeitete, war das, welches meine Gedanken am meisten in Anspruch nahm, mit dem ich mich am liebsten beschäftigte, an dem ich mein ganzes Leben lang arbeiten wollte, und mit dem ich meinem Rufe die Krone aufzusetzen gedachte, meine »politischen Einrichtungen«. Schon dreizehn oder vierzehn Jahre vorher hatte ich die erste Idee dazu gefaßt, als ich bei meinem Aufenthalte in Venedig Gelegenheit erhalten hatte, die Fehler dieser so hoch gerühmten Regierung zu erkennen. Durch das Studium der Geschichte der Moral hatte sich mein Gesichtskreis seitdem bedeutend erweitert. Ich war zu der Einsicht gelangt, daß im letzten Grunde alles auf die Politik ankäme, und daß jedes Volk, auf welche Weise man es auch immer anstellen möchte, nur das sein würde, was die Natur seiner Regierungsform aus ihm machen mußte. Demnach schien sich mir diese große Frage nach der bestmöglichen Regierungsform auf folgende zurückführen zu lassen: welche Regierungsform ist am meisten geeignet, das tugendhafteste, aufgeklärteste, verständigste, kurz das beste Volk in dem weitesten Sinne des Wortes zu bilden? Ich hatte einzusehen geglaubt, daß diese Frage so ziemlich der andern gleichkäme, wenn überhaupt ein Unterschied zwischen ihnen stattfände: welche Regierungsform steht mit dem Gesetze stets im nächsten Zusammenhange? Ferner: was ist das Gesetz? nebst einer ganzen Reihe von Fragen gleicher Wichtigkeit. Ich erkannte, daß mich dies alles zu großen, für das Glück des menschlichen Geschlechts, besonders aber für das meines Vaterlandes heilsamen Wahrheiten führte. In letzterem hatte sich auf der Reise, die ich vor kurzem dorthin unternommen, die Begriffe von Gesetz und Freiheit meines Erachtens weder richtig noch klar genug gefunden; und diese indirecte Art, sie ihnen beizubringen, war mir am geeignetsten vorgekommen, die Eigenliebe der dabei Betheiligten zu schonen und mir Verzeihung dafür zu erwirken, daß ich in Bezug auf diese Punkte ein wenig weiter sah als sie.

Obgleich ich bereits fünf oder sechs Jahre an diesem Werke arbeitete, war es doch noch wenig vorgeschritten. Bücher dieser Art verlangen Ueberlegung, Muße, Ruhe. Außerdem war ich mit ihm, so zu sagen, im Geheimen beschäftigt und hatte mein Vorhaben niemandem, nicht einmal Diderot mittheilen wollen. Ich besorgte, daß es für das Jahrhundert und das Land, in dem ich schrieb, zu kühn erschiene, und daß mir die Angst meiner Freunde bei der Ausführung hinderlich sein könnte. Ich wußte noch nicht, ob es rechtzeitig und der Art vollendet werden würde, daß es noch während meiner Lebzeiten erscheinen könnte. Ich wollte meinem Gegenstande alles, was er von mir verlangte, ohne Zwang geben können, fest überzeugt, daß mich, da ich keine Neigung zur Satire hatte und nie darauf ausging anzüglich zu werden, bei billiger Beurtheilung kein Tadel treffen werde. Ich wollte von dem Rechte zu denken, das ich durch meine Geburt besaß, in vollem Umfange Gebrauch machen, aber stets mit aller Achtung gegen die Regierung, unter der ich leben mußte, und ohne je ihren Gesetzen ungehorsam zu sein; und sehr darauf bedacht, das Völkerrecht nicht zu verletzen, wollte ich doch auch nicht auf seine Vortheile verzichten.

Ich gestehe sogar, daß ich als ein in Frankreich lebender Fremdling meine Lage für das Wagestück, offen die Wahrheit zu sagen, sehr günstig fand, da ich mir wohl bewußt war, daß ich, wenn ich dabei blieb, nichts ohne Erlaubnis drucken zu lassen, daselbst niemandem Rechenschaft über meine Grundsätze und ihre Veröffentlichung außerhalb des Landes schuldig war. Ich würde selbst in Genf weit weniger frei gewesen sein, wo die Obrigkeit, an welchem Orte auch meine Bücher gedruckt sein mochten, das Recht besaß, den Inhalt derselben ihrer Kritik zu unterwerfen. Diese Erwägung hatte viel dazu beigetragen, daß ich den Bitten der Frau von Epinay nachgab und von der Uebersiedlung nach Genf abstand. Ich fühlte, wie ich es im Emil ausgesprochen habe, daß man, liebt man nicht Intriguen und will man seine Bücher dem wahren Wohle des Vaterlandes widmen, sie nicht im Schooße desselben abfassen darf.

Was mich meine Lage noch glücklicher finden ließ, war die von mir gefaßte Ueberzeugung, daß es sich die französische Regierung, wenn sie mich vielleicht auch nicht mit günstigem Auge betrachtete, doch zur Ehre anrechnen würde, mich zwar nicht zu beschützen, aber doch wenigstens in Ruhe zu lassen. Meines Bedünkens war es eine sehr einfache und gleichwohl sehr geschickte Politik, sich aus der Duldung dessen, was man nicht hindern konnte, ein Verdienst zu machen; weil bei meiner Verbannung aus Frankreich, was alles war, wozu der Regierung das Recht zustand, meine Bücher dessenungeachtet und vielleicht mit weniger Mäßigung geschrieben worden wären, während sie, wenn sie mich in Ruhe ließ, den Verfasser als Bürgschaft für seine Werke behielt und zugleich ein im übrigen Europa tief eingewurzeltes Vorurtheil vernichtete, indem sie sich in den Ruf setzte, das Völkerrecht offenkundig zu achten.

Wer nach dem Erfolge denken möchte, daß mich meine Zuversicht getäuscht habe, könnte sich möglicherweise selbst täuschen. Bei dem Unwetter, das auf mich eingestürmt ist, haben meine Bücher nur als Vorwand gedient, während es in Wirklichkeit auf meine Person abgesehen war. Um den Schriftsteller kümmerte man sich sehr wenig, aber man wollte Jean Jacques verderben, und das größte Unrecht, das man in meinen Schriften gefunden haben mag, war die Ehre, welche sie mir bringen konnten. (9. Buch)

Fußnote Rousseaus zur "Angst meiner Freunde":
Diese Besorgnis flößte mir namentlich Duclos' vernünftige Strenge ein; denn was Diderot anlangt, so weiß ich nicht, wie es kam, daß alle meine Unterredungen mit ihm immer nur den Erfolg hatten, mich satirischer und beißender zu machen, als es mit meiner Natur im Einklang stand. Dies war es eben, was mich davon zurückhielt, ihn über mein Unternehmen um Rath zu fragen, in dem ich lediglich die Macht der Beweisführung zur Geltung bringen wollte, ohne irgend eine Spur von Mißvergnügen und Parteilichkeit. Ueber den Ton, welchen ich in diesem Werke angenommen, kann man nach dem im »contrat social« herrschenden urtheilen, welcher daraus geschöpft ist.

Ich arbeitete noch an zwei Werken. Das erste führte den Titel »Politische Einrichtungen«. Ich prüfte den Fortschritt dieses Buches und erkannte, daß es noch mehrjährige Arbeit verlangte. Ich hatte nicht den Muth, es fortzusetzen und bis zu seiner Vollendung mit der Ausführung meines Entschlusses zu warten. So entschloß ich mich denn, indem ich auf dieses Werk verzichtete, alles, was sich von ihm trennen ließe, herauszuziehen und das Uebrige dann zu verbrennen, und da ich diese Arbeit, ohne die am »Emil« zu unterbrechen, mit Eifer betrieb, legte ich in weniger als zwei Jahren die letzte Hand an den » Contrat social«. (10. Buch)

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