10 August 2007

Der Weg

An dieser Stelle sah ich jetzt, daß mir eine Gestalt, welche mir früher durch Baumkronen verdeckt gewesen sein mochte, entgegen kam, welche die Gestalt Nataliens war. [...]
»Es ist recht schön«, sprach sie, »daß wir gleichzeitig einen Weg gehen, den ich heute schon einmal gehen wollte, und den ich jetzt wirklich gehe.«

»Wie habt ihr denn die Nacht zugebracht, Natalie?« fragte ich.
»Ich habe sehr lange den Schlummer nicht gefunden«, antwortete sie, »dann kam er doch in sehr leichter, flüchtiger Gestalt. Ich erwachte bald und stand auf. Am Morgen wollte ich auf diesen Weg heraus gehen und ihn bis über die Felderanhöhe fortsetzen; aber ich hatte ein Kleid angezogen, welches zu einem Gange außer dem Hause nicht tauglich war. Ich mußte mich daher später umkleiden und ging jetzt heraus, um die Morgenluft zu genießen.« [...]

Wir gingen langsam auf dem feinen Sandwege dahin, an einem Baumstamme nach dem andern vorüber, und die Schatten, welche die Bäume auf den Weg warfen, und die Lichter, welche die Sonne dazwischen legte, wichen hinter uns zurück. Anfangs sprachen wir gar nicht, dann aber sagte Natalie: »Und habt ihr die Nacht in Ruhe und Wohlsein zugebracht?«
»Ich habe sehr wenig Schlaf gefunden; aber ich habe es nicht unangenehm empfunden«, entgegnete ich, »die Fenster meiner Wohnung, welche mir eure Mutter so freundlich hatte einrichten lassen, gehen in das Freie, ein großer Teil des Sternenhimmels sah zu mir herein. Ich habe sehr lange die Sterne betrachtet. Am Morgen stand ich frühe auf, und da ich glaubte, daß ich niemand in dem Schlosse mehr stören würde, ging ich in das Freie, um die milde Luft zu genießen.«

»Es ist ein eigenes erquickendes Labsal, die reine Luft des heiteren Sommers zu atmen«, erwiderte sie.
»Es ist die erhebendste Nahrung, die uns der Himmel gegeben hat«, antwortete ich.

Stifter: Der Nachsommer - Die Entfaltung

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